CW: Tod, Suizid, Gewalt, Mobbing, Sexualität | Spoiler Alert: Macbeth, Stolz und Vorurteil, Carrie, Harry Potter, Das Lied von Eis und Feuer, Kushiels Vermächtnis
Während Bad Boys in der Literaturgeschichte oft als rebellische Helden oder tragische Antihelden mit viel Sex-Appeal daherkommen, haben es ihre weiblichen Pendants deutlich schwerer, Sympathieträgerinnen zu sein. Bad Girls gelten schnell als intrigant, manipulativ oder schlichtweg böse. Sie sind oft Antagonistinnen, mitunter gefährliche Gegenspielerinnen, selten aber Heldinnen im klassischen Sinne. Vielleicht liegt das daran, dass Frauen, die sich über Normen hinwegsetzen, Macht ausüben oder mit weiblichen Rollenbildern brechen, als bedrohlich wahrgenommen werden. Umso spannender ist es, wenn sie in der Literatur genau das tun. Deshalb präsentiere ich euch heute meine Top 7 Bad Girls:
Platz 7: Die böse Stiefmutter
Die böse Stiefmutter aus den Märchen der Brüder Grimm ist der Archetyp des Bad Girls. Sie verkörpert alles, was im patriarchal geprägten Märchenuniversum als gefährlich gilt: Ehrgeiz, Eitelkeit, Machtstreben. Ob in Schneewittchen, Aschenputtel, Frau Holle oder Schwesterchen und Brüderchen, die Stiefmutter ist die Gegenspielerin der tugendhaften Held*innen. Dabei bleiben ihre Motive meist vage. Oft wird die böse Stiefmutter jedoch von Neid getrieben und von der Angst ihre leiblichen Kinder könnten zu kurz kommen. Dieses Motiv verweist auf einen realen historischen Hintergrund. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Müttersterblichkeit in Europa sehr hoch. Viele Kinder wuchsen daher mit Stiefmüttern auf. Brachten diese ebenfalls Kinder mit in die Ehe, so blieben diese vom Erbrecht ausgeschlossen, sofern der Stiefvater sie nicht adoptierte. Psychologisch gelesen ist die böse Schwiegermutter das Sinnbild der verdrängten weiblichen Macht. Sie ist eine Frau, die sich nicht mit Fürsorge und Opferrolle begnügt, sondern selbst handeln will und dafür zur „Bösen“ erklärt wird. In ihr verdichtet sich die patriarchale Angst vor Frauen, die nicht lieben, sondern herrschen wollen.
Platz 6: Lady Macbeth
Lady Macbeth fasziniert mich schon seit meiner Schulzeit. Shakespeares zeichnet sie als klassische Eva-Figur: eine Frau, die nach Macht strebt, den Mann zu Sünde verführt, wofür am Ende beide büßen müssen. Sie stachelt ihren Ehemann zum Mord an König Duncan an, um ihn und damit auch sich selbst an die Macht zu bringen. Darüber hinaus hilft sie ihm bei der Tat und bei der Vertuschung des Verbrechens. Lady Macbeth ist skrupellos, aber auch intelligent und ehrgeizig und sprengt damit zeitgenössische Vorstellungen von Weiblichkeit. Ich habe mir früher gerne vorgestellt, dass sie mit den Hexen im Bunde ist, die Macbeth die Zukunft prophezeien, und so die eigentliche Strippenzieherin hinter dem Mordkomplott. Für einen kurzen Moment gelingt es ihr jedenfalls, sich über gesellschaftliche Erwartungen hinwegzusetzen und Macht an sich zu reißen, nur um dann doch daran zu zerbrechen. Am Ende holen ihre Schuldgefühle sie ein und sie nimmt sich das Leben. Wie so viele literarische Frauen vor und nach ihr, wird sie für ihr Aufbegehren gegen die herrschenden Zustände mit nicht weniger als dem Tod bestraft.
Platz 5: Caroline Bingley
Im Gegensatz zu Lady Macbeth verstößt Caroline Bingley aus Jane Austens Stolz und Vorurteil nicht gegen die Geschlechterkonventionen ihrer Zeit. Im Gegenteil, sie setzt sie als Waffe ein. Mit beißendem Spott und hochnäsiger Überheblichkeit torpediert sie die Beziehung zwischen ihrem Bruder, Charles Bingley, und Jane Bennet. Aus Eifersucht setzt sie zudem, Elizabeth Bennet herab und versucht so Mr. Darcy für sich zu gewinnen. Caroline ist keine Mörderin, aber eine Meisterin der Demütigung. Im gesellschaftlichen Machtspiel kennt sie keine Gnade. Sie ist elegant, gebildet und gesellschaftlich geschult, aber ohne Tiefe. Dennoch ist Caroline Bingley nicht einfach nur böse. Austen macht deutlich, dass ihr Verhalten aus Angst vor Statusverlust und tiefsitzendem Konformitätsdruck entsteht. Sie ist ein Produkt ihrer Zeit und ihrer Klasse, eine Frau, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg einzig durch eine strategische Heirat sichern will. Austen zeigt an ihr, wie stark Frauen sich dem äußeren Schein, der Etikette und dem Urteil anderer unterwerfen mussten. Caroline funktioniert perfekt in diesem System und wirkt gerade deshalb so berechnend. Die Heldin, Elisabeth, die dem gesellschaftlichen Druck standhält und sich nicht verbiegen lässt, wirkt durch den Kontrast zu Caroline authentisch und tiefgründig.
Platz 4: Carrie White
Carrie White aus Stephen Kings Roman Carrie ist eine der wenigen Bad Girls, die nicht als Antagonistin angelegt ist, sondern als tragische Antiheldin. Von ihrer fanatisch-religiösen Mutter unterdrückt, wächst sie isoliert auf. In der Schule wird sie von ihren Mitschüler*innen gemobbt und gedemütigt. Erst als sie ihre lernt ihre telekinetischen Kräfte bewusst einzusetzen, kippt das Bild. Ihre jahrelang unterdrückte Wut bricht sich Bahn und Carrie rächt sich auf brutale Weise an ihren Peiniger*innen. Carrie ist nicht von Natur aus böse oder gewalttätig, im Gegenteil, erst die zahlreichen Demütigungen und Quälereien machen aus ihr eine Mörderin. Ihre telekinetischen Kräfte sind nicht nur ein fantastisches Element, sondern eine Metapher für unterdrückte Wut und unbewältigtes Trauma, die sich schließlich Bahn brechen. Für den Literaturwissenschaftler Sofiane Maafa geht es in dem Roman daher auch darum, welche weitreichenden gesellschaftlichen Folgen Gewalt gegen Frauen hat. Übrigens erhielt Stephen King beim Schreiben von Carrie entscheidende Unterstützung von seiner Frau Tabitha King. Sie ermunterte ihn nicht nur, die Geschichte fortzusetzen, nachdem er das Manuskript in den Müll geworfen hatte, sondern half ihm auch bei der Überarbeitung.
Platz 3: Dolores Umbridge
Sie ist nicht – ihr wisst schon wer – der ultimative Endgegner, aber wohl eine der originellsten Gegenspielerinnen von Harry Potter. Wie kann es sein, dass eine Figur, die nicht mal zu den Unterstützer*innen Voldemorts gehört, die meistgehasste Figur im ganzen Potterverse ist? Ich glaube es liegt daran, weil sie Banalität des Bösen verkörpert. In ihrer Mittelmäßigkeit ist sie den meisten von uns viel ähnlicher als eine Fanatikerin wie Bellatrix Lestrange oder gar Tom Riddle, der seine Seele verkauft hat. Umbridge ist eine Schreibtischtäterin, die behauptet Recht und Gesetz zu verteidigen, während sie gleichzeitig mit ihren Dekreten Freiheiten systematisch eingrenzt. (Kommt das irgendwem bekannt vor?) Als Schulleiterin regiert sie Hogwarts mit sadistischer Akribie und einem permanenten aufgesetzten Lächeln. Dabei ist ihr Name Programm: Dolores leitet sich von dem lateinischen Wort dolor (Schmerz) ab. Wie passend für eine Frau, die eine schneidende Feder einsetzt, um Schüler*innen, die sich ihr widersetzen, zu quälen. „To take umbrage“ bedeutet wiederum an etwas Anstoß zu nehmen, und Anstoß nimmt Umbridge an allem in Hogwarts, am meisten an Harry. Dolores Umbridge verdeutlicht, wie gefährlich und grausam blinder Glaube in die eigene Unfehlbarkeit sein kann, besonders wenn man großen Einfluss auf andere Menschen hat. Eine Lektion, die sich die Schöpferin dieser Figur, J.K. Rowling, leider nicht immer zu Herzen nimmt.
Platz 2: Cersei Lannister
Cersei Lannister aus Das Lied von Eis und Feuer von George R.R. Martin vereint viele Aspekte der bisher erwähnten Figuren, weshalb sie von mir Platz 2 erhält. Wie die böse Stiefmutter im Märchen tut sie alles, um die gesellschaftliche Position ihrer Kinder abzusichern. Dabei manipuliert sie ihren Ehemann wie Lady Macbeth und erweist sich wie Caroline Bingley als Meisterin des gesellschaftlichen Machtspiels. Mit Dolores Umbridge teilt sie die Grausamkeit, die sie ebenso hinter einem Lächeln verbirgt. Über drei (in der deutschen Übersetzung sechs) Bände hinweg lernen wir Cercei ausschließlich aus der (männlichen) Außenperspektive kennen. Doch ab Zeit der Krähen gibt uns Martin Einblicke in ihr Innenleben, die zeigen, wie sehr Cersei unter den patriarchalen Strukturen in Westeros leidet. Die Geringschätzung durch ihren Vater und die Demütigungen durch ihren Ehemann lassen sie zu der Frau werden, die sie ist. Als sie am Ende von Ein Tanz mit Drachen gezwungen wird, nackt und mit abrasierten Haaren durch Kings Landing zu laufen, um Buße zu tun, hatte ich Mitleid mit ihr, trotz ihrer vorherigen Verbrechen. Wer die Serie gesehen hat, weiß, dass es diese öffentliche Demütigung ist, die Cersei über den Rand des emotionalen Abgrunds stößt und eine zerstörerische Wut in ihr entfacht, die der Carries um nichts nachsteht. Ich hoffe so darauf, dass wir diesen Moment irgendwann endlich aus ihrer Perspektive lesen können.
Platz 1: Mélisande Shahrizai
Mélisande Shahrizai aus Jacqueline Careys sechsbändiger Reihe Kushiels Vermächtnis ist wahrscheinlich das unbekannteste Bad Girl auf meiner Liste. Auch deswegen (aber nicht nur) habe ich sie auf Platz 1 gesetzt, denn es lohnt sich sie und die Reihe kennenzulernen, falls ihr das noch nicht habt. Mélisandre ist die Gegenspielerin von Phèdre, der Protagonistin der ersten Trilogie. Im ersten Buch, Kushiels Pfeil lernen wir sie als kluge und faszinierende Frau kennen, die sich aber schon bald als Verräterin und politische Strippenzieherin entpuppt. Zwischen ihr und Phèdre herrscht trotz der erbitterten Gegnerschaft eine erotische BDMS-Spannung, der beide mitunter nachgeben, um sich gegenseitig auszuspionieren. (Ja, es geht in der Reihe auch um BDMS. Nein, es ist keine erotische Fantasy, nicht mal Romantasy, sondern eher High Fantasy mit Romance-Anteil.) Mélisande ist intrigant, empathielos und geht über Leichen, doch im Laufe der Reihe macht sie eine komplexe Charakterentwicklung durch. Da ist zunächst die Geburt ihres Sohnes, durch die sie emotional verletzlich wird, später dann die Trennung von ihm und der Wunsch, dass er ihr eines Tages ihre Verbrechen verzeihen möge. Solche einschneidenden Erfahrungen gehen nicht spurlos an ihr vorüber, wie das bei unterkomplexen Fantasy-Bösewichten gerne mal passiert. Sie bekommt aber auch keinen Redemption Arc, dafür sind die Verletzungen, die sie anderen zugefügt hat, zu gravierend. (Eine sehr schöne Zusammenfassung dieser Wandlung findet Ihr bei Marie Mullany von JustInTimeWorldbuilding.) Mélisande bleibt bis zum Ende der Reihe ambivalent, obwohl oder gerade, weil sie sich verändert. Und genau das macht sie so faszinierend.
Mehr Bad Girls, bitte!
Ob Märchenfigur, Shakespeare-Heldin oder Fantasy-Ikone, all diese Bad Girls haben eines gemeinsam: Sie brechen mit den Erwartungen an Weiblichkeit und Macht, die ihre jeweilige Zeit ihnen auferlegt. Sie sind unbequem, widersprüchlich, faszinierend, und genau deshalb so wichtig. Denn in ihren Geschichten spiegeln sich unsere Ängste, Sehnsüchte und gesellschaftlichen Tabus. Vielleicht brauchen wir mehr solcher Figuren, die nicht liebenswert, sondern lebendig sind. Welche literarischen Bad Girls haben euch am meisten beeindruckt oder abgestoßen? Schreibt mir eure Favoritinnen gern in die Kommentare oder auf Instagram. Ich bin gespannt, welche dunklen Heldinnen Euch nicht mehr loslassen.
